20.03.2020

Hi, wir sinds…

 

Hi, wir sinds, die Risikogruppe.

Turbulente Zeiten da draußen, oder? Ich hoffe euch allen geht es gut, wo auch immer ihr gerade seid. Im besten Fall natürlich Zuhause. Denn wie oben schon in Anlehnung an Raul Krauthausen geschrieben: Ich gehöre zur Risikogruppe des Corona-Virus. Und gerade wir, die Risikogruppe, sind angewiesen auf euch alle. Papa und Mama tun alles, damit ich gut behütet Zuhause bleiben kann und nicht in eine (vermutlich bald) überfüllte Klinik muss. Denn – und so deutlich sind wir selten – das Virus wäre mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich. Im „besten“ Fall läge ich wochenlang isoliert und intubiert auf einer Intensivstation. Vielleicht nicht einmal in meiner Hausklinik in Freiburg, die mich gut kennt, sondern auf irgendeiner Station, die sich kaum mit meinen Besonderheiten auskennt.

Nennt uns nicht Schwarzmaler – es ist wirklich ernst! Wir wissen, dass nicht jeder so viel mit Kliniken, Medikamenten und dem Gesundheitssystem im Allgemeinen zu tun hat wie wir. Das nehmen wir auch keinem Übel – im Gegenteil, wir freuen uns für jeden, der es nicht in Anspruch nehmen muss. Aber genau deshalb möchten wir euch noch einmal darauf aufmerksam machen wie wichtig es ist momentan Zuhause zu bleiben. Papa und Mama können sich nur zu gut ausmalen wie eine übliche Intensivstation (Papa lag dort vor rund zwei Jahren ja auch erst) aussehen wird wenn wir die Ausbreitung des Virus nicht einschränken und wahnsinnig viele kritische Patienten auf einmal behandelt werden müssen. Eine schreckliche Vorstellung für uns alle – zumal „normale“ Erkrankungen, Not-OPs, Geburten und und und neben all dem weiterhin auftreten, geschehen, einsetzen.

 

Wie sieht es bei uns also aktuell aus?

Mama sagte die Tage: „Irgendwie wie immer, nur anders.“ – und ich finde damit hat sie ein bisschen recht. Der sich gerade erst zum Ende neigende Winter bürdet mir ja sowieso schon viele Einschränkungen auf. Kälte, schlechtes Wetter, viele Infekte. In dieser Zeit gehen wir sowieso recht wenig nach draußen. Das Zuhause-Sein ist für mich also nicht unbedingt neu. Dass Papa trotz des kürzlich erst vollzogenen Arbeitgeber-Wechsels im Home-Office ist, um mich zu schützen, und deshalb ab und zu sogar tagsüber vorbeikommt und mir zwischen zwei Telefonaten oder Mails einen Kuss auf die Backe drückt ist neu – und schön! Er ist sehr dankbar für diese Regelung und beschwert sich deshalb auch nur gaaaanz selten über sein schickes, mit Kisten vollgestapeltes und unverputztes Kellerbüro  😉  Sachen die ich richtig blöde finde betreffen meine Besucher: Niemand darf mehr zu Besuch kommen. Keine Tante, keine Nachbarin, keine Freunde. Auch meinen vier Therapeutinnen haben wir bis auf Weiteres gebeten nicht mehr herzukommen – seit heute wären Hausbesuche sowieso verboten. Noch einen großen Einschnitt haben Papa und Mama bei meinen Krankenschwestern und -pflegern vorgenommen: Es findet kein Tagdienst mehr statt, nur noch in der Nacht kommt jemand zu mir – allerdings voll vermummt mit Mundschutz, Kittel und – eigentlich – Haube (so lange unsere drei Kittel noch reichen…Hauben haben wir sowieso keine mehr).

Womit wir zum nächsten Thema kommen, das Papa und Mama ziemlich beschäftigt. Die Lieferengpässe. Nicht die von Klopapier oder Ravioli-Dosen, nein, sondern von Medikamenten, Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel. Das alles brauchen und nutzen wir schon immer (nur Kittel und Hauben normalerweise weniger) und nun, tja, jetzt wo es wirklich drauf ankommt fehlt es an allen Ecken und Enden. Das ist ziemlich beängstigend, denn wenn Inhalationsmedikamente, die mir im Infektfall (auch ohne Corona!) das Atmen erleichtern, nicht mehr lieferbar sind, hab ich ein dickes Problem. Zum aktuellen Zeitpunkt sind wir immer nur für einige Tage komplett ausgestattet, hoffen immer dass alles wieder nachkommt. Aber was passiert dann, wenn eben einzelne Sachen oder – Gott bewahre – gar nichts mehr lieferbar ist? Wie lange wird das Ganze dauern? Wann gibt es wieder Desinfektionsmittel, das für meine PEG-Pflege und um andere Keime von mir fernzuhalten essentiell ist? Wie lange können Chirurgen noch arbeiten wenn keine Ausrüstung mehr nachkommt? Womit sollen all die drohenden Lungenentzündungen behandelt werden? Was passiert wenn mein Beatmungsgerät kaputt geht? Werden die Schlauchsysteme, die wir wöchentlich wechseln müssen, ausreichen?

Unser Haus, das schöne, neue, ebenerdige Haus, gleicht einer Isolierstation. Wir bitten die Nacht-Pflegekräfte mittlerweile unser Zuhause nur noch über den Keller zu betreten, sich Wechselkleidung mitzubringen, sich umzuziehen, einen Mundschutz anzulegen, je nach Verfügbarkeit noch einen Kittel überzustreifen und sich nach gründlichem Händewaschen selbige noch zu desinfizieren. Papa und Mama überlegen jeden Tag wie sie das Risiko für mich noch minimieren können – je weniger Kontaktpunkte zu anderen Menschen, desto besser. Für manche mag es unwirklich klingen – für mich ist es auch merkwürdig. Aber wie könnten wir alle uns verzeihen nicht alles mögliche getan zu haben, jetzt wo die Gefahr so sichtbar und präsent ist?

 

Unsere Quarantäne

 

 

Trotz all der widrigen Umstände (wir hatten uns so so sehr auf den Frühling gefreut) machen wir das Beste daraus. Ich genieße es, dass ich Papa tagsüber manchmal sehen kann. Auch wenn Verwandte, die uns einkaufen und alles an der Kellertür abstellen, nur durchs geschlossene Fenster winken können – ich winke mit meinem Säbel in der Hand zurück. Wenn die Sonne scheint gehen wir in den Garten, schaukeln auf meiner Hollywood-Schaukel, kapern imaginäre feindliche Schiffe mit meiner Kuscheltier-Crew, machen Seifenblasen und pflücken Gänseblümchen am Wegesrand wenn wir mal ganz mutig sind und die verlassene Straße auf und ab laufen. Mama liest mir viel vor, Papa kämpft mit mir gegen den bösen Piraten Schwarzbart. Ein bisschen Fernsehen gehört natürlich auch dazu, ich frage viel und mache mir Gedanken über die Situation – Papa und Mama versuchen mir alles so zu erklären, dass ich es verstehen kann. Gerade eben haben wir nachgeschaut weshalb das Virus „Corona“ heißt und – schwups! – hab ich Mama in eine Diskussion über Latein, Ärzte, Sprachen und die alten Römer verwickelt. So schlimm es auch ist: Jede Situation, immer, überall, kann auch tolle und verzaubernde Kleinigkeiten mit sich bringen. Versucht doch mal sie zu finden während ihr Zuhause bleibt!

 

 

Nehmt die Sache auf jeden Fall ernst, es wird nicht für immer so sein, auch wenn es sich gerade so endgültig anfühlt. Ich kenne ähnliche Umstände, ich (und auch Papa) lag schon intubiert auf einer Intensivstation und wir beide haben um unser Leben gekämpft. Diese Situationen werden bei uns in Deutschland nicht ausbleiben – aber: Macht möglich, dass jeder Patient die Möglichkeit bekommt so gut versorgt zu werden wie Papa und ich damals.

 

Achtung – Triggerwarnung!

Üblicherweise suchen wir die Fotos hier sehr bedacht aus um niemanden zu überfordern. Angesichts der Situation aber ein Eindruck von dem was kommen wird. Alarmstufe ROT – so wie hier möchte Mama uns beide nie wieder sehen müssen:

 

 

 

Bleibt gesund. Und bleibt Zuhause.

Vielen Dank nochmal an das ganze Team von Papas neuer Firma, dass ihr ihn von Zuhause aus arbeiten lasst, um mich zu schützen!

Euer Samu