27.01.2021

Einfach sein

„Es könnt alles so einfach sein, isses aber nicht.“

(Die Fantastischen Vier – Einfach sein)

 

Achtung: Kann Spuren von Ironie enthalten!

Wieder einmal beginnend mit einem Zitat aus einem Lied, das Mama mag, möchte ich euch heute von etwas berichten, das mir, ganz besonders aber Papa und Mama große Sorgen, Wut im Bauch und viel Arbeit beschert. Wie ihr wisst, haben die beiden Hilfe für die Anschaffung eines neuen Autos und den dazugehörigen Umbau beim Bezirk Unterfranken beantragt. Der ist für die Eingliederungshilfe, im Sinne der sozialen Teilhabe, nämlich für uns zuständig. Nun haben wir die Ablehnung bekommen. Und die liest sich wirklich sehr unangenehm. Papa und Mama sagen mir natürlich nicht alles, denn manche Aussagen würden mich vermutlich ziemlich verunsichern. Mir Angst machen. Meine Träume zerstören. Mir vor Augen führen, dass ich anders bin. Zeigen, dass anders aber offenbar nicht gleichwertig bedeutet. Nicht gleichwertig mit den „Normalen“ da draußen.

 

 

Der Sachbearbeiter findet, dass ich mit einem Behindertenfahrdienst gut bedient wäre. Dass ich aber nur liegend, beatmet und unter Aufsicht einer medizinisch geschulten Person Auto fahren kann – was in Form eines ärztlichen Attestes meines Superhelden-Ärzte-Teams aus Freiburg vorliegt – ignoriert er.

Wisst ihr, was er noch als Beweis anführt? Meine Wunschliste mit Dingen, die ich nach Corona gerne mal tun würde. Die haben Papa und Mama ihm nämlich zur Verfügung gestellt, um zu zeigen was ich mir wünsche, was ich mit dem neuen Auto planen würde. Dass es nicht nur ihr Wunsch für mich ist, sondern auch meiner. MEINE Wunschliste. Ich bin fünf. Ich träume zum Beispiel davon auf dem Segelschiff von Kapitän Edward Teach „Blackbeard“ mitzufahren. Obwohl der tot ist und das Schiff bestimmt irgendwo auf dem Grund des Meeres liegt. Naja, jedenfalls wünsche ich mir auf der besagten Liste auch, dass ich mal Zug fahren kann. Das ist für den Sachbearbeiter Grund und Beweis genug, dass ich locker mit dem E-Rolli oder Reha-Buggy, dem Beatmungsgerät, dem Cough Assist, dem Absauggerät, dem Beatmungsbeutel, meinem Sondenessen, Spritzen, Windeln, Reserve-Absaugkathetern, meinem neuen Super-Gerät (von dem ich euch endlich bald erzählen darf!) und allem Anderen den ÖPNV benutzen kann. Immer. Bei jedem Wetter. Egal wie fit ich bin.

Zur Tatsache, dass man das Auto, das gefördert werden soll, regelmäßig brauchen muss, stellt der Sachbearbeiter fest, dass Fahrten zu Verwandten NICHT zur Teilnahme an sozialen Leben gehören. Ein 5-Jähriger braucht also seine Omas, Opas, Tanten, Onkel, Cousinen usw. NICHT um sozial integriert zu sein. Allerhöchstens, so der Sachbearbeiter, sind solche Besuche zu berücksichtigen, wenn man keinerlei andere soziale Kontakte hat. Ich besuche ja aber schon AUF KOSTEN des Bezirks den Kindergarten. Da gibt es behinderte und nicht behinderte Menschen. Das reicht völlig. Findet ihr nicht?

Auch darf ich, nach Ansicht des Sachbearbeiters, nicht mehr an den Bahnhof in Aschaffenburg, um mir Züge anzuschauen. Das könne ich in Mömbris am Bahnhof ja genauso gut (ok, nur einmal pro Stunde und keine ICEs, aber es ist ein Bahnhof). Genauso steht mir seiner Ansicht nach kein Besuch in einem anderen Zoo als dem in Frankfurt zu. Das ist nämlich in der Nähe und überhaupt sind ja alle Zoos gleich, richtig? Haste einen gesehen, haste alle gesehen, meint ihr nicht?

Es ist ein bisschen schwer hier zu erklären, weil es so viele Widersprüche gibt. Zum Beispiel: Ich besuche AUF KOSTEN des Bezirks den Kindergarten. Wenn nicht grade Corona ist, dann fünf Tage pro Woche. Das ist doch ziemlich regelmäßig, oder? Genauso oft, wie ihr zur Arbeit fahrt. Dazu kommen die Fahrten zu Verwandten, Festen, Festivals, Zoos, Museen (Senckenberg wünsche ich mir nämlich auch auf meiner Liste!) oder vielleicht mal in den Urlaub. Die sind nicht ganz so regelmäßig, aber außerhalb der Pandemie doch häufig. Der Sachbearbeiter meint aber, dass ich das Auto ja nicht regelmäßig brauche. Obwohl ich doch AUF KOSTEN des Bezirks in die KiTa gehe. Versteht ihr das?

Weiter gehts damit, dass unser Haus zu groß ist. Das Haus, das so viele von euch mit uns umgebaut haben oder den Umbau ermöglicht haben. Das Haus, nach dem Papa und Mama wegen meinen besonderen Bedürfnisse fast drei Jahre lang gesucht haben. Im Antrag haben Papa und Mama wahrheitsgemäß angegeben, dass das Erdgeschoss 104 m2 hat und das unausgebaute Obergeschoss 94 m2. Das addiert der Sachbearbeiter zu rund 200 m2 Wohnfläche. Wir wohnen im und nutzen nur das Erdgeschoss. Das DG ist keine Wohnfläche. Nur ein leeres Etwas, ein Rohbau, der entstanden ist, weil wir das Dach aus rechtlich vorgegebenen Energieeinsparungs-Maßnahmen erneuern mussten.

Auch unser Grundstück sei zu groß. Mit knapp 1000 m2 ist es das, groß. Laut Rechtssprechung gehe man „regelmäßig“ davon aus, dass 500 m2 angemessen seien. Das können Papa und Mama nachvollziehen – denn wenn wir hier einen Bauplatz ausweisen und damit Geld verdienen könnten, dann würden wir natürlich dieses für den Autokauf und -umbau benutzen. Aber wer schon einmal hier war, der weiß, dass das nicht möglich ist. Grenzabstände könnten für ein solches Vorhaben auf keiner Seite des Hauses eingehalten werden. Das Irrenhaus 2.0 steht – entschuldigt den Ausdruck – einfach saudoof mitten auf diesen 1000 m2. Mitten in einem eng bebauten Wohngebiet. Dieses Thema habe ich tatsächlich mitbekommen und seitdem Sorge, dass wir unser Haus verkaufen müssen. Das Haus, das mir so viele Freiheiten bietet. So viel Selbstständigkeit in Zukunft ermöglicht. Das Haus, das ich ebenerdig befahren kann.

Tja, und weil Haus und Grundstück laut dem Sachbearbeiter zu groß sind gelten sie als nicht angemessen. Als nicht schützenswert. Es sei verwertbares Vermögen, das Papa und Mama doch veräußern können. Und dann, frage ich euch, wo leben wir dann? In den nicht vorhandenen freien behindertengerechten Wohnungen hier im Umkreis? In einem Haus mit 12 Stufen vor der Eingangstür? In einem Haus, in dem wir wieder alles umbauen müssen, damit ich darin zurechtkomme? Für welchen Preis würden wir das finden, wo doch die Suche nach dem Irrenhaus 2.0 so lange gedauert hat. Wie viel sollen Papa und Mama für eine Alternative (eine in jedem Fall schlechtere) bezahlen?

Versteht mich, uns, bitte nicht falsch. Wenn eine neutrale, unvoreingenommene und rechtlich gut begründete Prüfung stattfindet, dann nehmen wir eine solche auch immer an. Papa und Mama möchten weder „das System“ hintergehen, noch ausnutzen. Sie wollen keine Leistungen erschleichen. Aber in diesem Fall läuft es wirklich von Beginn an schlecht. Nicht wertschätzend. Immer mit gewissem Beigeschmack (AUF KOSTEN). Ohne jegliche Empathie. Ohne ernsthaft prüfen oder eine Einzelfallentscheidung treffen zu wollen (In einer fehlgeleiteten Mail [da klickte jemand auf Antworten statt auf Weiterleiten] zu Beginn, als wir lediglich die Antragsunterlagen zugesandt haben wollten: „Hallo [Name]. Wir verweisen gleich auf den Fahrdienst, oder?“). Eine sehr einseitige und subjektive Beweisführung. Ignorieren, nicht Erwähnen von medizinischen Unterlagen. Auslassen von Fahrten, die wirklich der sozialen Teilhabe dienen (Kommz, Brüderschaft der Völker, Veranstaltungen des Kinder- und Jugendhospizvereins uvm.). Papa und Mama sind traurig, wütend, enttäuscht, schockiert. Im einen Moment fuchsteufelswild, im nächsten absolut niedergeschlagen. Aber ihr kennt uns – wir geben nicht auf. Papa und Mama werden für eine unvoreingenommene erneute Prüfung kämpfen. Haben ja nicht genug zu tun, die beiden  😉

Wir sind gespannt, wie ihr das seht!

 

 

Bleibt bitte alle genauso tapfer wie wir es versuchen. Auch wenn die Situation dank Corona noch immer blöde ist.

„Aufstehen, laufen!“