04.11.2020

„Ich krieg keine Luft“

 

Mein Mantra. „Ich krieg keine Luft“. Zwei Nächte, vom 16. auf den 17. und die folgende Nacht, musste ich es immer wieder sagen. Weil es wahr war. Ich bekam nicht richtig Luft. Auch wenn es ein erschreckender Titel ist heute – wir wollen ehrlich sein und euch auch die dunklen Seiten der SMA zeigen. Warum ich keine Luft bekam? Ich hatte eine Lungenentzündung. Die allererste für mich.

 

 

Wie ihr wisst, war ich in den letzten Wochen eigentlich dauerkrank. Ein paar Tage fit, dann der nächste Schnupfen oder Husten. Vorletzte Woche hat es sich dann immer weiter zugespitzt. Papa und Mama haben wirklich alles versucht um die Situation hier Zuhause im Griff zu behalten. Drei schlaflose Nächte mit Dauerhusten haben uns allen die Kräfte geraubt. Am vorletzten Donnerstag hat Papa alles gegeben um einen Physiotherapeuten zu finden, der mit mir Atemtherapie macht. Denn obwohl Papa und Mama schon fast fünf Jahre Erfahrung damit haben, haben ihre Hände einfach nicht mehr ausgereicht um mir Erleichterung zu verschaffen. Aber leider vergeblich. Bürokratie, Zeit, Fähigkeiten. An irgendetwas mangelte es immer. Meine Lunge füllte sich mit mehr und mehr Sekret, ein einziges Gewitter. Um das zu hören brauchte es nicht einmal mehr ein Stethoskop. Sehr früh am Freitag beschlossen die beiden, dass es so Zuhause nicht mehr geht. Sie können Vieles, aber manchmal ist es besser Ärzte im Hintergrund zu wissen, die routiniert Wiederbeleben, mich intubieren und einen Zugang legen könnten. Klingt hart – ist es auch. Die Entscheidung in den frühen Morgenstunden fiel beiden schwer, denn am nächsten Tag, Samstag den 17. Oktober, war mein fünfter Geburtstag. Als um 7:30 Uhr endlich mein Kinderarzt Telefonzeit hatte (Danke an dieser Stelle an Herrn Z., Frau S. und das ganze Praxisteam für Alles!) legte Papa gleich los: Telefonierte, bat um Rat und um einen Überweisung- und Transportschein nach Freiburg.

 

 

In der Zwischenzeit hatte ich schon Sauerstoffbedarf, was wirklich wirklich selten vorkommt. Ich war so müde. Erschöpft vom Husten und den vorherigen Nächten. Als alles geklärt war, dann auch noch unendlich traurig, als Mama mir sagte, dass wir Dr. F in Freiburg besuchen werden. Mein Geburtstag sollte also ins Wasser fallen. Zum Glück waren die Jungs im Krankenwagen echt nett. Nachdem sie aus zwei Fahrzeugen das passende für mich zusammengebastelt hatten (Strom ist unabdingbar bei der langen Fahrtzeit, sowie Halterungen für meine ganzen Geräte), ging es für Mama und mich im RTW los, Papa und Oma A gleich hinterher in unserem Bus mit dem restlichen Gepäck. Eigentlich erschreckend, dass Papa und Mama in all dem Trubel abwechselnd so gut gepackt hatten – außer Handtüchern und Bettwäsche haben sie nichts vergessen. Wohl wissend, dass es kein kurzer Aufenthalt wird. Makabere, lang erlernte Routine.

 

 

Die Fahrt selbst war, naja, ok. Immer wieder Sauerstoffbedarf, meine Sättigung trotzdem unterirdisch. Wir sind durch alle Staus sogar mit Blaulicht und Sirene gefahren, mitten durch die Rettungsgasse, die zum Glück weitestgehend offen gehalten wurde von den LKWs und Autos. Mir ging es zwar nicht gut, aber ich hatte noch genug Energie zum Durchhalten. Sogar für einen kleinen Witz war ich noch zu haben: Auf die Frage wie meine drei Rettungssanitäter heißen, fiel der Name Sven. Da ich Wickie-Fan bin fiel mir natürlich sofort der schreckliche Sven ein. Das sorgte für großes Gelächter im Krankenwagen, etwa 30 Minuten nach Abfahrt Zuhause. Alles lief „gut“, so gut wie es in einer solchen Situation eben laufen kann. Bis wir nur noch zehn Minuten von der Klinik entfernt waren. Dann wars vorbei, ich fragte Mama ständig, wann wir endlich da sind. Wollte nur noch in mein Krankenhausbett, damit es mir bald besser geht. Exakt beim Einparken vor dem Notfall-Eingang konnte ich dann nicht mehr. Die Sättigung fiel wieder, ich war am Ende. Papa und Oma A waren nur ganz kurz nach uns da und halfen mit, bis endlich ein Arzt nach unten kam. Sauerstoff ganz aufdrehen und los, schnell nach oben auf die Station. Dort angekommen Kabel und Schläuche entwirren, mich irgendwie ins Bett umlegen. Und schon in diesem Moment war klar, warum Freiburg die richtige Wahl war: Sofort wurde der Beatmungsdruck erhöht, ohne Zögern, um meine Lunge wenigstens etwas besser zu belüften. Das Ganze in einem Maß, das sich wohl kaum eine andere Klinik auf die Schnelle getraut hätte. Ich war unsicher, hatte Angst, bekam trotzdem noch schlecht Luft. Aber ich, Papa und Mama waren so froh endlich angekommen zu sein – in unserem zweiten Zuhause, das diesen Namen nicht ohne Grund bekommen hat. Anschließend verkabeln, erste BGAs, etwas zu Essen, damit ich nicht auch noch unterzuckere, Zugang legen. Papa hat mich in der Zwischenzeit unten angemeldet, damit ich als Patient registriert bin und ein Röntgenbild angemeldet werden konnte.

Danach begannen 48 Stunden, die im Nachhinein irgendwie schwer chronologisch wiederzugeben sind. Alles ist etwas verschwommen, kein Tag-/Nachtrhythmus, ein ständiges Delirium. Das Röntgenbild zeigte Infiltrate, also „verdicktes“ Lungengewebe, das auf eine Entzündung schließen lässt. Meine allererste Lungenentzündung also, hurra! Hätte mir wahrlich bessere Geschenke zum fünften Geburtstag vorstellen können…aber zu denen später mehr  😉  Papa und Mama wechselten sich ständig ab, denn ich kam aus dem Husten immer noch nicht raus. Kräftezehrend. Ich konnte nicht schlafen, murmelte dauerhaft Sätze vor mich hin. Meistens „Ich krieg keine Luft“, manchmal auch „Ich kann nicht atmen“. Die beiden haben alles versucht, weiter Atemtherapie gemacht, viel inhaliert, sich mit den Ärzten und Ärztinnen besprochen. Cortison hatte ich Zuhause schon bekommen, eine erneute Gabe würde in dem kurzen Abstand nicht helfen. Sie begannen mit Antibiotikum. Wie sich später herausstellte ein hochdosiertes „Super-Antibiotikum“, wie ich immer sage. Per Infusion in die Vene. Abwarten bis es beginnt zu wirken. Irgendwie versuchen, dass ich Kraft tanken und wenigstens ein bisschen schlafen kann. Lustigerweise half mir dabei in den ersten zwei Nächten nur eins: Das Novafon, das mir meine liebe Logopädin ausgeliehen hat. Eigentlich um meine faule Backe anzuregen, mit Schallwellen. Papa fand aber raus, dass ich keinen Hustenreiz mehr hatte wenn er damit an zwei ganz bestimmten Stellen auf meiner Brust vibrierte. Mama glaubt, dass es einfach Ablenkung vom Grummeln und Kitzeln der Fremdkörper, des Schleims in der Lunge war. Ganz egal, es half mir wenigstens für 2-10 Minuten am Stück zu schlafen. So konnte ich Kraft sammeln und an meinem Geburtstag schon wieder ein kleines bisschen produktiver Husten. „Alles was keine Miete bezahlt muss raus!“ sagt die liebe Physio Frau V. in Freiburg schon immer. Damit hat sich Recht, es lag an mir den ganzen Kram aus meiner Lunge rauszuwerfen. Wenn auch in tagelanger, anstrengender Arbeit.

 

 

 

 

Es war ein ständiges Auf und Ab. Nachmittags kurz eine akzeptable Sättigung, keine Stunde später Hustenanfall und wieder Sauerstoff. Normalerweise lasse ich mich nachts vom Beatmungsgerät gänzlich beatmen, verlasse mich auf die Frequenz, weiß, dass der Druck ausreicht um meinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Daran war bis kurz vor Entlassung nicht zu denken. Die Erwachsenen sagen dann immer, dass ich „pumpe“. Ich atme übers Zwerchfell mit, trotz Beatmung. Mein Körper will mehr Luft und arbeitet deshalb trotzdem auf Hochtouren, manchmal sogar gegen die Beatmung, statt mit ihr. Mein Geburtstag war deshalb für mich kaum real. Obwohl die Schwestern der Station sogar Luftschlangen und Ballons aufgehängt hatten. Das war alles noch griffbereit, denn gleich gegenüber im Zimmer feierte ein anderer Junge ein paar Tage zuvor auch seinen Geburtstag – auch eine Piratenparty. Halb so cool wenn man sich währenddessen so abrackern muss, um atmen zu können. Und trotzdem so so lieb, dass alle versucht haben mir trotzdem einen schönen Tag zu machen.

 

 

 

Erst am Tag danach, am Sonntag, hatte ich wirklich genug Energie um meine Geschenke anzuschauen. Selbst an die hatten Papa, Mama und Oma A nämlich bei Abfahrt noch gedacht. Wie ich es mir gewünscht habe: Das neue Playmobil-Piratenschiff mit roten Segeln! Ein Buch, ein Beschützer-Dino-Kuscheltier und von Oma A Piratenshirts und einen Kompass. Wie ihr seht bekamen wir sogar die Erlaubnis das Schiff inmitten der Intensivstation aufzubauen  🙂

 

 

In den kommenden Tagen ging es weiter auf und ab. Trotz dreimal täglich Antibiotikum brauchte mein Körper einfach viel Zeit. Die Physiotherapeutinnen kamen jeden Tag zur Atemtherapie vorbei, mein Körper hatte langsam endlich wieder genug Flüssigkeit, denn zwischenzeitlich war ich etwas dehydriert wegen des ganzen Schwitzens, der Anstrengung und meiner eher mäßig guten Verdauung. Um besser ausrechnen zu können wie viele Kalorien ich übers Essen zu mir nahm, gab es die ersten Tage ausschließlich Sondenkost. Zuhause gibts das auch, aber nur zweimal am Tag, sonst esse ich ja ganz normales Essen. Bis Donnerstag hat mich das in der Klinik auch nicht gestört, hatte andere Probleme. Als mein Zimmernachbar aber Donnerstag Spätzle mit Gulasch zum Mittagessen bekam konnte ich es nicht mehr aushalten. „Papa, ich will das auch Essen! Ich kann nicht immer nur diese Sondenkost essen! Ich will was Richtiges!“. Und weil der Junge und sein Papa in meinem Zimmer echt lieb waren, sollte es so sein: Er gab mir die Hälfte von seinem Essen ab, Papa pürierte es und ich war seit Tagen endlich mal wieder richtig satt, selig und zufrieden.

 

 

So langsam machte auch das Filme schauen wieder Spaß. Ich wollte meinen Säbel zurück haben und kämpfen. Für viele Tage leider in der rechten Hand, da die linke, meine „Säbelhand“, wegen des Zugangs nicht zu gebrauchen war. Das Legen des Zugangs war so schwierig, viele misslungene Versuche, blaue Flecken und Piekser, viele Minuten Weinen, dass niemand riskieren wollte, dass er unbrauchbar wird, also verstopft, oder rausrutscht. Also war die Hand dick eingewickelt und mehrfach verklebt. Trotzdem ging es mir tagsüber schon wieder ganz gut –  ich kam zurecht, gab alles, um die kaugummiartigen Schleimis rauszuschaffen. In den Nächten zeigte sich dann wieder die Erschöpfung. Hier ein paar Auszüge von Mamas „wirren Worten“, die sie nachts aufgeschrieben hat:

 

Muss deine Hand loslassen um das hier aufzuschreiben. Grade bist du eingeschlafen, sehr spät, sehr unruhig. „Mama, ich hab Angst!“. Du hast mit den Fingern gewackelt, damit ich weiß, dass du Händchen halten willst. Ich überlege lange, ob ich loslasse. Aber du musst sowieso inhalieren, wir sind schon spät dran.
Die gelbe 93 blinkt mich an. Seit Minuten schaue ich auf den Monitor während du schläfst. Sie blinkt nicht weil sie eine 93 ist, sondern weil beim ersten Einschlafversuch eine 88 an ihrer Stelle stand. Deine Sauerstoffsättigung ist das. Untergrenze 90. In Gedanken mach ich einen Deal mit dir: Du hältst die Sättigung bei mindestens 94, dafür bleibe ich die ganze Nacht wach für dich. Und trotzdem steht da ganz frech die 93. Blinkt mich an als ob sie sagen wollte „Ätsch, deine Wünsche und ausgedachten Deals zählen hier nicht!“.
Makaber, die moderne Technik. Meine Smartwatch, die ich eigentlich nur habe, um mich endlich wieder zum Schwimmen zu trauen und dabei erreichbar zu sein (Hurra, wasserdicht!) – falls du mich brauchst und ein Anruf kommt, dass ich schnell nach Hause muss – diese Smartwatch erkennt es auch wenn ich Stress habe. Dann schlägt sie vor doch mal eine Minute durchzuatmen, würde mir dabei sogar einen Takt am Handgelenk vibrieren. Dabei ist es ihr aber völlig egal ob es eine Situation ist die man gut „wegatmen“ kann oder ob man grade im Krankenwagen sitzt und darum kämpft, dass das Kind genug Luft bekommt. Blödes Ding. Achtsamkeit am Arsch.
Und wieder mal auf den Krankenhaus-Monitor reingefallen. Kurz hüpfte das Herz vor Freude, weil die Augen eine 100 gesehen haben. Ganz oben, der erste angezeigte Wert. Aber: Pech gehabt. Zuhause steht ganz oben die Sauerstoffsättigung. Hier im Krankenhaus ist es die Herzfrequenz. Da ist 100 zwar ebenfalls gut, aber eben nicht die sehr gute Sättigung. Die steht eine Zeile drunter: 93.

 

 

 

Am Sonntag war schließlich ziemlich klar, dass ich Montag nach Hause darf. Bepackt mit einem Perfusor (einer Spritzenpumpe), der meinen Zugang mit minimaler Flüssigkeitsgabe offen hielt (brauchte ihn ja am Montag noch für die letzte Antibiotikum-Gabe) durfte ich endlich wieder mal nach draußen! Neun Tage immerzu die gleichen Wände und Ausblicke, da taten die Straßenbahnen vor der Klinik, die Herbstsonne, die bunten Blätter und Kastanien gleich doppelt gut. Und wie ihr seht, habe ich das Ganze für knapp eine Stunde ohne Beatmung geschafft. Alles hing bereit zum Einsatz am Buggy, aber ich war tapfer und mutig genug es ohne zu versuchen. Ihr kennt bestimmt alle den Spruch, dass man gleich wieder aufs Pferd steigen soll, wenn man einmal runtergefallen ist. Nichts anderes ist es bei mir mit der Beatmung. Sobald es geht, wenn auch nur für wenige Minuten, mache ich wieder Pause davon. Um das Vertrauen in mich und meinen Körper nicht zu verlieren. Um nicht zu vergessen, dass ich es auch ohne „Elefanti“ schaffe.

 

 

 

 

Nach der letzten Gabe am Montag, einer superlangen Hand-Wäsche nach dem Ziehen des Zugangs und Auswickeln der Hand, einer ausgiebigen Verabschiedungsrunde auf Station, dem Auto-Packen, Elternzimmer putzen und natürlich auf Zuhause freuen ging es endlich los. Wir haben die aktuelle Auto-Situation mal festgehalten. Wie ihr auf den Bildern oben seht ist nicht mehr viel Luft nach oben. Im tatsächlichen und übertragenen Sinn. Und dabei war der Rolli noch nichtmal dabei, der deutlich größer ist, als mein Buggy. Vielleicht wird jetzt nochmal deutlich warum wir wirklich ein größeres Auto brauchen  😉

 

 

 

Jetzt Zuhause erhole ich mich noch immer. Es braucht einige Wochen bis ich wieder in Bestform bin. Aber die Beatmungspausen werden länger, die letzten Schleimis verziehen sich langsam. Und ich bin froh nun in „kleinen Dosen“ meinen Geburtstag nachfeiern zu können. Alle paar Tage kommt jemand vorbei, bringt mir ein Geschenk, das ich ganz in Ruhe auspacken kann. Ganz „coronakonform“ und sehr vorsichtig natürlich. Aber nicht unbedingt weniger schön als eine große Party – so hat jeder Zeit für mich und ich für sie. Ganz in Ruhe und ohne Stress. Davon hatte ich nämlich echt genug!